Menschsein mit der Süddeutschen: „Finger in die Nase!“
- Reiner Makowsky
- 31. Okt. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Juni

Ihr Menschen!
Die Süddeutsche findet sich nicht nur mutig, sie hat es auch menschlich voll raus. Eine ihrer freien Mitarbeiterinnen weiß: „Popeln ist irgendwie eklig und lustig zugleich, vor allem aber eines: zutiefst menschlich“! [Q1] Selbstverständlich ist die Headline des Beitrags als klarer Appell für genau diese These zu begreifen:
„Finger in die Nase!“
Na, wer kann da schon widerstehen? Menschlich, so wollen wir uns doch alle sehen. Auch wenn das irgendwie eklig und lustig zugleich ist. Bevor du dich allzu schnell verführen lässt, bereite dich zuvor mit ein paar redaktionellen Insights auf den Popelbeitrag der Süddeutschen vor.
Warum? Weil sich so keine goldene Nase verdienen lässt:
Call to Nonsense
Was bewirkt der Call to Nonsense? In der Regel nichts und in diesem Fall nicht einmal das: Selbst, wenn der Beitrag klarstellen würde, dass unser Menschenbild unvollständig war (wie so oft in diesen rauen Zeiten), so könnten wir anhand der „Sieben rotzigen Fakten aus der Nasenhöhle“ nicht einmal Freunde, Familie, Kollegen, Kommilitonen oder Vorgesetzte bei passender Gelegenheit missionieren. Wir könnten ihnen gar nicht bescheinigen, was uns dieser Nonsens schon alles eingebracht hat. Denn eine berechtigte Frage erschließt sich aus diesem Beitrag nämlich nicht:
Wieso soll der Finger in der Nase ein Sinnbild für menschliche Qualitäten oder menschliches Handeln sein?
Schlecht ist der Text nicht geschrieben, im Gegenteil. Gut, allein schon im Sinne einer Kunst für sich. Die Wortwahl ist so konsequent ekelhaft, dass der Beitrag als Ganzes schon wieder eine kreative Leistung darstellt. Etwas komisch, man kann fast lachen. Wäre es nicht so ekelhaft popelig. Würde die Pointe nicht fehlen.
Würde nicht gleich im ersten Absatz etwas „zutiefst“ nerven.
Thematischer Durchhänger
Hey, Moment … Sollten wir nicht innehalten oder uns zumindest aufhalten lassen, wenn uns existenzielle Wahrheiten dieses Kalibers präsentiert werden? Oder sollten wir uns lieber fragen, warum es überhaupt der Erwähnung wert sei, dass ausgerechnet Popeln uns angeblich so menschlich macht: Weswegen wird das gleich als Erstes betont, welchen Effekt soll das haben?
Die Antwort: Der Artikel ist im Ressortbereich „Gesellschaft“ der Süddeutschen erschienen.
Das war’s. Für Erwachsene, für ihre Kinder? Man weiß es nicht – jedoch wird anhand der Satzstellung und Position aus „zutiefst menschlich“ zutiefst wichtig für die Perspektivierung des Ressortbeitrags. Mehr nicht, probiere es selbst aus: Ersetze „zutiefst menschlich“ durch einen anderen Aufhänger. Schwuppdiwupp, schon passt der Popelbeitrag in ganz viele andere Ressortbereiche.
„Popeln ist irgendwie eklig und lustig zugleich, vor allem aber eins:
unser gutes Recht!“
eine schlechte Angewohnheit.“
gesundheitsschädlich.“
für das Kindeswohl nicht gut.“
klima- und umweltfreundlich.“
Tja, Gesellschaft – was nun?
Probieren wir’s halt mit Menschlichkeit – auch in diesem Fall nicht nachhaltig gedacht: Die Menschlichkeit wird aufgrund ihrer Vorbildfunktion nur zu gern redaktionell ausgeschlachtet. Immer wieder dann, wenn in eklatanter Weise an die angeblich skizzierte Menschlichkeit appelliert oder zum Nachdenken und Nachahmen dieser angeregt werden soll. Mit inhaltlichen Trends und Verstärkerwörtern ist es wie mit Produkten. Wenn du recherchierst, bekommst du schnell eine Idee davon, wie überflüssig oder austauschbar die thematischen Ausführungen eigentlich sind.
Da gibt es keine Grenzen. Selbst die mehr oder weniger trottelige Frage, ob Popel essen nun ungesund sei, kann in der Variante Dr. Sommer intim und einfühlsam beantwortet werden.
„Mein Freund isst seine Popel - Ist das ungesund?“ SÜDDEUTSCHE 2018 [Q1b]
Wer nicht fragt, der bleibt eben dumm. Doch „Manche Frage traut man kaum zu stellen.“ Das weiß auch die mutige SZ und tut es vielleicht gerade deswegen. Also, warum sollten sie hier kein gutes Beispiel abgeben? Weg mit dem Tabu, das wäre doch der Zeitgeist. Doch ein solches Vorgehen ist per se nicht zu empfehlen. Ziehe lieber einen prototypischen Vergleich, bevor du eines Tages alle inhaltlichen Bedenken über Bord geworfen hast. Nämlich den, welchen Eindruck das allein schon beim Themenspektrum Popeln hinterlässt. Damit kennen sich fast alle Verlagsmarken bestens aus. Dem Menschlichen haben sich im Rahmen dieser Themenexpertise übrigens nicht alle verschrieben. Hier die schönsten Beispiele:
(Aus ästhetischen Gründen wurden die Links im geschlossenen Aufklappmenü untergebracht.)
Weil viele Redaktionen immer wieder viel Zeit finden, sich in einem Themenspektrum auszutoben, heißt das nicht, es gäbe hier einen echten Informationsbedarf. Vieles fällt in die Kategorie „unnützes Wissen“, das je nach Geschmack zwar unterhaltsam sein mag, für das Content-Marketing aber tabu ist: Unnützes hat keine Relevanz.
Komischerweise wird aber immer wieder vorgemacht, wie man Mehrwerte für die menschliche Gewissheit aufbaut, die dem Frageniveau gleichkommen: Was, wenn der Finger in der Nase steckt? Je nach inhaltlicher Schwerpunktsetzung wird dafür natürlich die Wissenschaft gern und regelmäßig herbeizitiert. Für die Popel-Science im Tierreich etwa hatte der MDR im Oktober 2022 Denkwürdiges zu vermelden:
„Nasebohren ist nicht nur menschliche Angewohnheit!“
Der Mensch, der über sich selbst und andere urteilt, kommt in diesem Artikel aber nicht so gut weg. [Q2] Die schamlosen Tiere haben für die Redaktion die Nase vorn. Immerhin ließ das MDR-Ressort „Wissen/Medizin“ (!) seine Leser*innen nicht unkundig zurück: „Mukophagie“ kann man sich aus diesem Artikel merken. Wer weiß schon, wofür das noch gut sein kann? [Q1] Das schwere Wort scheint jedenfalls nicht unwichtig zu sein, wenn es um das orale Training der körpereigenen Abwehr geht. Und in der Wissenschaft, das weiß man ja, ergibt alles einen Sinn.
Leser*innen an der Nase herumführen
Mit solchen Beiträgen würde man vermutlich keinen journalistischen Auszeichnungen im Bereich der Berichterstattung für die Menschenrechte nachjagen. Andererseits wirkt es auch ein klein wenig undankbar, die Leser*innen mit den Popelthemen in immer den gleichen Kategorien bei der Stange halten zu müssen: Gefahrenpotenzial, Gesundheit, Verbote, Alternativen, Jahrestage, Popeltiere und Popelstars – die Informations- und Unterhaltungswerte sind da eher überschaubar. Außerdem liegt im Lerneffektspektrum der Popelthemen tatsächlich wenig Wertigkeit für das Menschliche.
Innerhalb einer breit aufgestellten Verlags- oder Rundfunkzielgruppe sollte das nicht anders sein. Auch wenn es sehr verlockend sein mag, zu glauben, man habe bei der Leserschaft thematisch wieder mal den Vogel über den kleinsten gemeinsamen Nenner abgeschossen. Einem Popel.
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Quellen
[Q1] Himmer, Nina. (2023): „Finger in die Nase!“ | Süddeutsche.de. Abgerufen 11. Januar 2024 (https://www.sueddeutsche.de/leben/wissen-finger-in-die-nase-1.5740025).
[Q1b] o. A. (2018): „Mein Freund isst seine Popel - Ist das ungesund?“ | Süddeutsche.de. Abgerufen 12. Januar 2024 (https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-mein-freund-isst-seine-popel-ist-das-ungesund-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-180209-99-04612).
[Q2], [Q3] mdr.de. o. A.: „Popeln: Nasebohren ist nicht nur menschliche Angewohnheit“ | mdr.de Abgerufen 11. Januar 2024 (https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/popeln-nasebohren-nicht-nur-bei-menschen-100.html).
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